DREHTAGEBUCH - Unterwegs in Israel und den besetzten Gebieten (2004/ 2005)

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drehtagebuch1_israel_20.jpgwed, 10.11.04 - 20:34

Wann stirbt Arafat? Das ist die Frage die hier alle beschäftigt. Selbst die israelischen Nachrichten kennen ausser Falludscha kaum noch ein anderes Thema. Am Abend treff ich im Österreichischen Hospiz (mein „Hotel" für die nächsten Tage in der Altstadt) Kai Wiedenhöfer. Er ist seit vier Wochen schon hier und fotografiert tagein, tagaus die Arbeiten an der Mauer, die die Israelis um die Westbank bauen. Über ihn und seine Arbeit will ich mit einer kleinen Digitalkamera in den nächsten Tagen hier den Anfang einer Dokumentation drehen.

Das hatten wir schon vor Monaten geplant - der Zeitpunkt der Dreharbeiten in Jerusalem und der Westbank stand seit Wochen fest. Mit Arafats schwerer Krankheit ist alles anders. Stündlich kann er in Paris sterben. Das würde unsere ganzen Pläne verändern.

drehtagebuch1_israel_09.jpgKai soll in den nächsten Tagen für das amerikanische NEWS-Magazin "TIME" aus Ramallah berichten. Zunächst hat er die Fotoredaktion des bekannten Magazins hingehalten.
In Ramallah sollen sich mittlerweile über 500 Journalisten aufhalten, um im Falle des Todes die Stimmung der Palästinenser einzufangen. Für den nächsten Tag haben wir andere Pläne. Am Morgen wollen wir erst einmal zu einem Checkpoint im Norden Jerusalems aufbrechen, dann zum Israelischen Pressebüro zwecks Akkreditierung und am Nachmittag zu einer Stelle an der die Mauer noch gebaut wird. Mal schauen ....

thu, 11.11.04 - 06:13

In der Nähe vom Damaskus Gate im arabischen Teil der Jerusalemer Altstadt treffen wir zwei italienischen Fotojournalisten. Sie fahren mit uns zum Checkpoint von Qalandiya - zwischen Jerusalem und Ramallah.
Dort wollen sie an der Mauer Bilder machen. 20 Minuten später sind wir vor Ort. Es ist nicht so viel los wie sonst sagt Kai Wiedenhöfer. Sonst stehen hier viel mehr Busse, die die Palästinenser zur Arbeit bringen. Während er mit seiner speziellen Fotokamera die Szene von einer Anhöhe aus beobachtet (100 Meter Luftlinie zur einem israelischen Beabachtungspunkt) führen wir für die geplante Dokumentation ein langes Interview.

Nach gut einer Stunde stehen wir wieder am Auto, wollen durch die Sperren auf die andere Seite gehen. 07:23 Uhr Ortszeit (wir sind hier eine Stunde vor Deutschland) erhält Kai von einem Fotografen einen Anruf. „Arafat is dead". Hektik entsteht, wir brechen überstürzt auf. Kai hat keine geeignete Fotokamera dabei und ich nur zwei Videotapes eingesteckt.
Also rein nach Jerusalem, rein in den Berufsverkehr und in den Stau. Das Frühstück fällt aus. Gegen 9 Uhr sind wir mit als erste Journalisten in Ramallah - in Arafats Amtssitz der Mukata. Gedrückte Stimmung, Tränen - die ersten frisch gedruckten Plakate nach seinem Tod werden verteilt.

thu, 11.11.04 - 10:16

Die Vorbereitungen für Arafats Beerdigung laufen. Im Innenhof übt eine Garde den Paradeschritt - immer und immer wieder. An einem Seil werden von Offiziellen Arafat-Plakate befestigt, die aufgereiht wie an einer Wäscheleine über der Mukata wehen. Hier am Westeingang von Arafats Amtssitz haben sich nur wenige Journalisten versammelt. Kai Wiedenhöfer und sein Kanadischer Kollege Ethan Eisenberg sucht nach einem besonderen Motiv - eines das sich von den Dutzenden Shots der zahlreich angereistendrehtagebuch1_israel_17.jpg News-Fotografen unterscheidet. Immer wieder gehen wir zum Osteingang der Mukata. Dort haben sich die Kamerateams in Reihe aufgestellt, Palästinensische Polizisten versuchen immer wieder die Einfahrt frei zu räumen.
Im Innenhof werkeln Bagger. Sie sollen wohl ein Grab ausheben.

drehtagebuch1_israel_14.jpgIn der Ferne schwebt Rauch am Himmel. Ein kurzes Telefongespräch - die italinischen Journalisten sind schon vor Ort. Achtjährige rollen alte Autoreifen in ein Feuer. Fotografen stehen am Rande. „Das Bild wird heute zehn mal bei TIME auf dem Server landen. Wir müssen halt etwas anderes finden" sagt Kai Wiedenhöfer.
  Die übliche Vorstellung von der Situation in der Westbank sei dies hier nun mal und die müssten die Medien wohl entsprechen. Später sehen wir dann noch sieben Maskierte mit Maschinengewehren, die vor der Muktata rauf und runter laufen - ein Dutzend Kamerateams und die doppelte Anzahl Fotografen im Schlepptau. Am Rand hocken die Kollegen vor trauernde Frauen - das Objektiv 40 Zentimeter vor den Tränen im Anschlag. Mann, kennen die Idioten denn wirklich kein Erbarmen? 

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Der Tag vor Arafats Beerdigung ist auch ein Medienereignis. Als ich später den Artikel in SPIEGEl ONLINE lese, beginne ich mich doch noch ein wenig zu fürchten - das muß ja gefährlich gewesen sein heute in Ramallah. Wahrscheinlich war ich in einer ganz anderen Stadt unterwegs.

thu, 11.11.04 - 14:03

Wir sind auf dem Weg nach Qalandiya. Am Rande des Flüchtlingslagers, in unmittelbarer Nähe der Mauer, soll es Auseinandersetzungen zwischen palästinensischen Jugendlichen und der israelischen Armee geben. Vor uns werfen einige Steine. Ein paar Schüsse fallen, wahrscheinlich Gummigeschosse. 
Kai und Ethan gehen schnell an den Jugendlichen vorbei, in Richtung der Soldaten. „Was soll das" frage ich mich - quer durch die Linien? Ich will noch ein paar Bilder von den Jugendlichen drehen, bleibe zurück. drehtagebuch1_israel_18.jpgEntschliesse mich nach anfänglichen Zögern dann doch noch den beiden zu folgen, beginne zu rennen. Ein Schuß knallt - ach du Scheisse.

Hinter den Soldaten angekommen, treffe ich auch auf die italinischen Fotografen. „Not running" erklärt mir der 32jährige Samuele. Ein kurze Einführung in die Regeln des Strassenkampfes in der Westbank, Verhaltensregeln für Journalisten inmitten eines absurden Konfliktes.

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thu, 11.11.04 - 19:07

In der Nähe des Damaskustores am Eingang zum Arabischen Viertel in der Jerusalemer Innenstadt haben sich Hunderte zum stillen Gedenken versammelt. Sie halten Kerzen und Arafat-Plakaten in den Händen.


drehtagebuch1_israel_06.jpgSpontan entsteht ein Protestmarsch. Einige Palästinenser wollen eine israelische Polizeistadtion stürmen. Flaschen fliegen, Blendschockgranaten detonieren. Nach wenigen Minuten ist alles vorbei.




drehtagebuch1_israel_07.jpgMittendrin wieder: Kai Wiedenhöfer und sein Italienischer Kollege Samuele Pellecchia. Irgendwie sind die Fotografen immer an der richtigen Stelle wenn etwas passiert. Frauen mit Kerzen in stiller Trauer versammelt - dieses Foto von Kai Wiedenhöfer wird TIME vier Tage später tausendfach drucken.



thu, 11.11.04 - 21:53

Es war ein ereignisreicher Tag.
Den ganzen Tag sind wir in Ramallah auf den Beinen - laufen rund vier mal von Arafats Ex-Sitz (dort wird morgen die Trauerfeier stattfinden) zum zentralen Platz. Rund 20 Kilometer stecken am Abend in den Beinen. Ach ja - gegessen haben wir dann auch etwas. Fladenbrot mit Wurst, Cola und einem Schokoriegel: "Ramallah needs energy". Versteckt im Auto - denn es ist Ramadan. Am Abend noch ein paar Bier mit den italienischen Kollegen - sie waren schliesslich auch zwölf Stunden auf den Beinen. Die Akkreditierung habe ich immer noch nicht - morgen geht es weiter.

Fotos:
Screenshots interpool.tv, Fred Kowasch Filmproduktion

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