DREHTAGEBUCH - Unterwegs in Israel und den besetzten Gebieten (2004/ 2005)
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wed, 10.11.04 - 20:34
Wann stirbt Arafat? Das ist die Frage die hier alle beschäftigt. Selbst die israelischen Nachrichten kennen ausser Falludscha kaum noch ein anderes Thema. Am Abend treff ich im Österreichischen Hospiz (mein „Hotel" für die nächsten Tage in der Altstadt) Kai Wiedenhöfer. Er ist seit vier Wochen schon hier und fotografiert tagein, tagaus die Arbeiten an der Mauer, die die Israelis um die Westbank bauen. Über ihn und seine Arbeit will ich mit einer kleinen Digitalkamera in den nächsten Tagen hier den Anfang einer Dokumentation drehen.
Das hatten wir schon vor Monaten geplant - der Zeitpunkt der Dreharbeiten in Jerusalem und der Westbank stand seit Wochen fest. Mit Arafats schwerer Krankheit ist alles anders. Stündlich kann er in Paris sterben. Das würde unsere ganzen Pläne verändern.
Kai soll in den nächsten Tagen für das amerikanische NEWS-Magazin "TIME" aus Ramallah berichten. Zunächst hat er die Fotoredaktion des bekannten Magazins hingehalten.In Ramallah sollen sich mittlerweile über 500 Journalisten aufhalten, um im Falle des Todes die Stimmung der Palästinenser einzufangen. Für den nächsten Tag haben wir andere Pläne. Am Morgen wollen wir erst einmal zu einem Checkpoint im Norden Jerusalems aufbrechen, dann zum Israelischen Pressebüro zwecks Akkreditierung und am Nachmittag zu einer Stelle an der die Mauer noch gebaut wird. Mal schauen ....
thu, 11.11.04 - 06:13
In der Nähe vom Damaskus Gate im arabischen Teil der Jerusalemer Altstadt treffen wir zwei italienischen Fotojournalisten. Sie fahren mit uns zum Checkpoint von Qalandiya - zwischen Jerusalem und Ramallah.Dort wollen sie an der Mauer Bilder machen. 20 Minuten später sind wir vor Ort. Es ist nicht so viel los wie sonst sagt Kai Wiedenhöfer. Sonst stehen hier viel mehr Busse, die die Palästinenser zur Arbeit bringen. Während er mit seiner speziellen Fotokamera die Szene von einer Anhöhe aus beobachtet (100 Meter Luftlinie zur einem israelischen Beabachtungspunkt) führen wir für die geplante Dokumentation ein langes Interview.
Nach gut einer Stunde stehen wir wieder am Auto, wollen durch die Sperren auf die andere Seite gehen. 07:23 Uhr Ortszeit (wir sind hier eine Stunde vor Deutschland) erhält Kai von einem Fotografen einen Anruf. „Arafat is dead". Hektik entsteht, wir brechen überstürzt auf. Kai hat keine geeignete Fotokamera dabei und ich nur zwei Videotapes eingesteckt.
Also rein nach Jerusalem, rein in den Berufsverkehr und in den Stau. Das Frühstück fällt aus. Gegen 9 Uhr sind wir mit als erste Journalisten in Ramallah - in Arafats Amtssitz der Mukata. Gedrückte Stimmung, Tränen - die ersten frisch gedruckten Plakate nach seinem Tod werden verteilt.
thu, 11.11.04 - 10:16
Die Vorbereitungen für Arafats Beerdigung laufen. Im Innenhof übt eine Garde den Paradeschritt - immer und immer wieder. An einem Seil werden von Offiziellen Arafat-Plakate befestigt, die aufgereiht wie an einer Wäscheleine über der Mukata wehen. Hier am Westeingang von Arafats Amtssitz haben sich nur wenige Journalisten versammelt. Kai Wiedenhöfer und sein Kanadischer Kollege Ethan Eisenberg sucht nach einem besonderen Motiv - eines das sich von den Dutzenden Shots der zahlreich angereisten News-Fotografen unterscheidet. Immer wieder gehen wir zum Osteingang der Mukata. Dort haben sich die Kamerateams in Reihe aufgestellt, Palästinensische Polizisten versuchen immer wieder die Einfahrt frei zu räumen.Im Innenhof werkeln Bagger. Sie sollen wohl ein Grab ausheben.
In der Ferne schwebt Rauch am Himmel. Ein kurzes Telefongespräch - die italinischen Journalisten sind schon vor Ort. Achtjährige rollen alte Autoreifen in ein Feuer. Fotografen stehen am Rande. „Das Bild wird heute zehn mal bei TIME auf dem Server landen. Wir müssen halt etwas anderes finden" sagt Kai Wiedenhöfer.
Die übliche Vorstellung von der Situation in der Westbank sei dies hier nun mal und die müssten die Medien wohl entsprechen. Später sehen wir dann noch sieben Maskierte mit Maschinengewehren, die vor der Muktata rauf und runter laufen - ein Dutzend Kamerateams und die doppelte Anzahl Fotografen im Schlepptau. Am Rand hocken die Kollegen vor trauernde Frauen - das Objektiv 40 Zentimeter vor den Tränen im Anschlag. Mann, kennen die Idioten denn wirklich kein Erbarmen?
Der Tag vor Arafats Beerdigung ist auch ein Medienereignis. Als ich später den Artikel in SPIEGEl ONLINE lese, beginne ich mich doch noch ein wenig zu fürchten - das muß ja gefährlich gewesen sein heute in Ramallah. Wahrscheinlich war ich in einer ganz anderen Stadt unterwegs.
thu, 11.11.04 - 14:03
Wir sind auf dem Weg nach Qalandiya. Am Rande des Flüchtlingslagers, in unmittelbarer Nähe der Mauer, soll es Auseinandersetzungen zwischen palästinensischen Jugendlichen und der israelischen Armee geben. Vor uns werfen einige Steine. Ein paar Schüsse fallen, wahrscheinlich Gummigeschosse. Kai und Ethan gehen schnell an den Jugendlichen vorbei, in Richtung der Soldaten. „Was soll das" frage ich mich - quer durch die Linien? Ich will noch ein paar Bilder von den Jugendlichen drehen, bleibe zurück. Entschliesse mich nach anfänglichen Zögern dann doch noch den beiden zu folgen, beginne zu rennen. Ein Schuß knallt - ach du Scheisse.
Hinter den Soldaten angekommen, treffe ich auch auf die italinischen Fotografen. „Not running" erklärt mir der 32jährige Samuele. Ein kurze Einführung in die Regeln des Strassenkampfes in der Westbank, Verhaltensregeln für Journalisten inmitten eines absurden Konfliktes.
thu, 11.11.04 - 19:07
In der Nähe des Damaskustores am Eingang zum Arabischen Viertel in der Jerusalemer Innenstadt haben sich Hunderte zum stillen Gedenken versammelt. Sie halten Kerzen und Arafat-Plakaten in den Händen.Spontan entsteht ein Protestmarsch. Einige Palästinenser wollen eine israelische Polizeistadtion stürmen. Flaschen fliegen, Blendschockgranaten detonieren. Nach wenigen Minuten ist alles vorbei.
Mittendrin wieder: Kai Wiedenhöfer und sein Italienischer Kollege Samuele Pellecchia. Irgendwie sind die Fotografen immer an der richtigen Stelle wenn etwas passiert. Frauen mit Kerzen in stiller Trauer versammelt - dieses Foto von Kai Wiedenhöfer wird TIME vier Tage später tausendfach drucken.
thu, 11.11.04 - 21:53
Es war ein ereignisreicher Tag.Den ganzen Tag sind wir in Ramallah auf den Beinen - laufen rund vier mal von Arafats Ex-Sitz (dort wird morgen die Trauerfeier stattfinden) zum zentralen Platz. Rund 20 Kilometer stecken am Abend in den Beinen. Ach ja - gegessen haben wir dann auch etwas. Fladenbrot mit Wurst, Cola und einem Schokoriegel: "Ramallah needs energy". Versteckt im Auto - denn es ist Ramadan. Am Abend noch ein paar Bier mit den italienischen Kollegen - sie waren schliesslich auch zwölf Stunden auf den Beinen. Die Akkreditierung habe ich immer noch nicht - morgen geht es weiter.
Fotos:
Screenshots interpool.tv, Fred Kowasch Filmproduktion
fri, 12.11.04 - 09:38
Am Tag von Arafats Beerdigung herrscht Ausnahmezustand in Israel. Die Jerusalemer Altstadt ist abgesperrt, ebenso die Übergänge zur Westbank. An jeder Strassenkreuzung Polizei, Zufahrten sind mit quergestellten Lastern gesichert. Am israelischen Checkpoint nach Ramallah werden wir rausgewunken, müssen aussteigen. Der Grund: meine fehlende Press-Card. Ich zeige meinen Reisepass, das Visum, den deutschen Presseausweis. Ein Soldat telefoniert, ein anderer erklärt uns: dies wäre nur zu unserer eigenen Sicherheit. Aha. Dann kommt der Soldat zurück erklärt etwas auf Hebräisch, sein Gesichtsausdruck sagt alles. Zurück nach Jerusalem - Press-Card besorgen. Da dauert Stunden und Arafat wartet nicht. Eine Chance gibt es noch - Qalandiya!fri, 12.11.04 - 11:26
Erneut Strassenkontrolle. Vor uns müssen Autos umkehren. Diesmal zeigen wir nur unsere deutschen Reisepässe - und haben Glück! In Qalandiya laufe ich als Fussgänger einfach durch, der Kanadische Fotograf Ethan Eisenberg begleitet mich. Kai fährt allein mit dem Auto auf die andere Seite. Ein Glück, jetzt kann sich der Puls erst einmal beruhigen!
In Ramallah an Arafats Amtssitz sind über Nacht zahlreiche TV-Gerüste sprichwörtlich aus dem Boden gewachsen. Tausende Euro bezahlen die internationalen TV-Stationen hier für einen Balkon mit Blick über die Muktata - der dann als Hintergrund für die LIVE-Schaltungen in alle Welt dient. Dutzende Kleinbusse halten, bringen Palästinenser aus der gesamten Westbank. Wir versuchen über das Westtor in die Muktata zu kommen. Am Tor mit dem VIP-Eingang versprechen wir uns die grössten Chancen. "Ich bin immer reingekommen" sagt Kai Wiedenhöfer. Er wird Recht behalten - zwei Stunden später.
fri, 12.11.04 - 13:12
Nach einer Stunde Drängelei wechseln wir die Strategie. Steigen auf einen Laster, setzen uns auf den roten Teppich. Den brauchen die doch bestimmt zur Beerdigung! Hilft alles nichts, wir müssen runter. Dann stecken wir uns die Buttons einer israelisch-palästinensischen Friedensdelegation an, die zur Beerdigung gekommen ist. Aber auch die kommen am Westtor keinen Schritt weiter. Von überall her strömen Trauernde - wollen Jasir Arafat einen letzten Dienst erweisen. Tumulte am Eingangstor, Dreck und Steine fliegen. Dann bahnt sich das Volk seinen Weg!fri, 12.11.04 - 14:43
Unruhe kommt auf, Arme strecken sich. Ein Zirren das immer lauter wird. Dann erscheinen zwei Hubschrauber am blauen Himmel. Sie bringen den Sarg von Arafat aus Kairo zur Beisetzung zum Gelände der Muktata. Im ehemaligen Amtssitz, wo Arafat beerdigt werden soll, haben sich über 100 000 Palästinenser versammelt. Staub und Dreck wird aufgewirbelt. Tausende hocken am Rand, die Hände zum Schutz vor dem Gesicht. Gerade hat es meine Basecap irgendwo hingeweht, ich werde sie nachher nicht mehr finden. Neben mir drückt der Luftzug des Helikopters einen Palestinenser zu Boden, der unentwegt das Viktory-Zeichen hochhält.Dann wird es still, erste Schüsse fallen, Tausende beginnen den Landeplatz zu stürmen. Polizisten versuchen mit Warnschüssen die Menge zurück zu drängen - immer und immer. Verletzte werden hektisch am Rand behandelt, Notbeatmung im Chaos. Nach 20 Minuten fährt eine Kleinlaster rückwärts und ohne Erbarmen in die Menge - ein Wunder dass es hier keine Schwerverletzten gibt. Dann wird der Sarg Arafats ausgeladen.
fri, 12.11.04 - 20:09
Unfassbar! Nichts geht mehr!! Über Hunderttausend Menschen auf dem Gelände der Mukata. Sie wollen den Sarg berühren, Abschied von ihrem Präsidenten nehmen. Wir mittendrin. Handys funktionieren stundenlang nicht, Chaos pur.Die Maueröffnung war ein Kaffeekränzchen dagegen. Im vierten Anlauf (nach über einer halben Stunde Drängelei) gelingt es mir zum Grab Arafats vorzudringen. Ich habe Glück - gerade wird Erde draufgeschüttet. Ein wenig unwürdig wirkt die Szene schon - für eine Beerdigung eines der umstrittensten Männer des 20.Jahrhunderts. Der Dreck der aus blauen Plastiksäcken in das Grab entleert wird, es soll sich dabei um die "heilige" Erde vom Jerusalemer Tempelberg handeln. Ich ahne all dies nicht, drehe einfach. Versuche der tiefstehenden Sonne auszuweichen, die von vorn in die Linse scheint. Der Puls rast - es ist wohl ein historischer Moment, den ich da gerade filme. Ich bin einer von zwei Kameramännern die die Szene festhält - die exclusiven Bilder laufen am Abend mehrfach in den ZDF-Abendnachrichten. Immerhin ist nun die Reise finanziert. Wenn mir nur nicht im Gedränge die Mappe mit den Geldkarten und Bargeld aus dem eigentlich verschlossenen Rucksack geklaut wäre. Na ja - nur der nichts macht, dem nichts passiert.
sat, 13.11.04 - 16:47
Es ist wie die Erleichterung nach einem Sturm. In Ramallah ist nach Arafats Beerdigung Ruhe eingekehrt. Vereinzelte Besucher am Grab - vor allem Palestinensische Politiker waren heute in der Mukata. Ansonsten herrscht eher eine neue Art der Gelassenheit, als wäre endlich eine Ära vorbei. Hinzu kommt, dass heute der Fastenmonat zu Ende. Essen und trinken im Hellen - man glaubt gar nicht wie gut das sein kann!sun, 14.11.04 - 11:20
Nach ein paar Stunden am Grab von Arafat sind wir gestern noch zur Mauer nach Qalandiya und Abu Dis gefahren. In Abu Dis, einem südöstlichen Stadtteil von Jerusalem durchschneidet sie das Wohnviertel. Als Grenzübergang dient ein Kirchentor, über den angrenzenden Olivengarten kommt man in die besetzten Gebiete. Auch hier wieder Willkür bei den Kontrollen. Weiter oben ein kilometerlanger Betonwall, der neun Meter in den Himmel ragt. In der Abendsonne ein israelischer Militärjeep auf Patrouillienfahrt. Die Berliner Mauer war nur halb so hoch.mon, 15.11.04 - 11:03
Gestern Filmaufnahmen in Ram gemacht. Dort wird gerade eine Kreuzung zwischen zwei Mauerstuecken dicht gemacht. Kinder, Frauen und Greise steigen ueber den Schuttwall - noch. Ob hier ein Checkpoint entsteht, weiss keiner der angrenzenden Ladenbesitzer.Die Mauer verläuft an dieser Stelle fünf Kilometer hinter der eigentlich gültigen Grenzlinie von 1967. Aber erst einmal hat Israel Fakten geschaffen.
mon, 15.11.04 - 17:17
Mit Arafats Tod scheint Bewegung in einen festgefahrenen Konflikt gekommen zu sein. Glaubt man zumindest den NEWS aus aller Welt. In Bethlehem wird eifrig an der Mauer weitergebaut und in Ram haben findige Palästinenser über Nacht Schutt beiseite geschoben. Der Verkehr an der Kreuzung läuft wieder - doch wie lange noch?!wed, 17.11.04 - 16:43
Die Ausreisekontrolle in Israel: als wär man als Schwerverbrecher unterwegs! Erst vor dem Flughafen - weil ich mit einem arabisch aussehenden Taxifahrer gefahren bin. Dann vor dem Check In - eine halbe Stunde Frage auf Frage. Wo gewohnt, was unternommen, mit wem geredet ....Dann wollten sie die Bänder sehen. Instinktiv hatte ich Betende an der Klagemauer reingelegt. Zehn Minuten von neun Stunden Material. Dann wollten sie Aufnahmen aus Ramallah sehen. Mist, auch das noch. Jetzt gibt es richtig Ärger!
Irgendwie habe ich sie dann doch noch mit meinen zwei Büchern ablenken können. Ein simpler Israel Reiseführer für 9,90 Euro hat mir die Bänder und damit wohl auch die Dokumentation gerettet. Wozu das alles? Für die Sicherheit Israels?? Wenn man das Land verlassen will???
Fotos:
Screenshots interpool.tv, Fred Kowasch Filmproduktion
DREHTAGEBUCH II - Unterwegs in den israelisch besetzten Gebieten
Ihr Bau ist von der UNO verurteilt, die Landnahme als völkerrechtswidrig anerkannt. Trotzdem baut Israel die Mauer weiter. Im November 2005 hat interpool.tv den deutschen Fotografen Kai Wiedenhöfer begleitet, der dies dokumentiert.
fri, 11.11.05 - 7:14 p.m.
Kaum angekommen, schon geht es los. Auf nach Bili'ien, im westlichen West-Bank. Für den Mittag ist eine Demonstration gegen den Bau der Mauer angekündigt. Wie jeden Woche nach dem Freitagsgebet. Unweit der Moschee ein Haus mit lauter Fremden. Friedensaktivisten aus Frankreich, Kanada, den USA und Israel. Auf dem Kühlschrank klebt ein A3 grosser Zettel. In roter Schrift steht darauf: "Kauft keine israelischen Produkte".Das Gebet ist beendet, der Marsch beginnt. Zahlreiche Demonstranten tragen Arafat-Masken. Es ist ein Jahr her, als er in Frankreich starb. Wenig später sind wir inmitten von Olivenhainen. In der Ferne wartet ruhig das Militär. Plötzlich schwenkt die Menge nach rechts, beginnt zu rennen. Einer erklimmt einen zehn Meter Hügel voller Bauschutt, befestigt zwei Fahnen auf dem Gipfel. Ein Tieflader rollt heran, Soldaten eilen herbei. Palätinenser und Militär stehen sich gegenüber. Der Bagger fährt rückwärts.
Dann kommen von der Seite die internationalen Demonstranten, setzen sich vor den Tieflader. Sie wollen die Bauarbeiten behindern. Das israelische Militär ist überrascht und überlistet. Das haben sie nicht so gern. Tritte, Schläge, Schreie. Eine Soldatin reisst einem blonden Demonstranten ein Büschel Haare aus, schlägt ihm mit einem Stock in die Nieren. Wenige Minuten später wird sie inmitten der Gruppe eine Blendschockgranate zünden. Dann ist erst einmal alles ruhig. Eine Stunde lang.
Plötzlich geht es wieder los. Ohne Vorwarnung. Das Militär stürmt vor, Tränengas wird eingesetzt. Kai und ich sind auf den Huegel geklettert, beobachten das Ganze von Weitem. Die Soldaten gehen zurück - sie sind ins eigene CS-Gas gelaufen. Der Wind kam halt von vorn. Drei Israelis werden festgenommen, ein Palästinenser kollabiert. Am Horizont lassen Jugendliche ihre Steinschleuder kreisen.
Nach dem Einsatz. Die Soldaten lachen und scherzen, führen sich gegenseitig anschaulich ihre Taten vor. Dort ein Faustschlag, hier ein Hieb. Alltag in der West-Bank, an einem ganz normalen Freitagmittag. Dort, wo schon in einigen Monaten eine neun Meter hohe Mauer in den Himmel ragen soll.
sat, 12.11.05 - 6:39 p.m.
Der Tag ging nicht gut los. Erst das Auto eingeschlagen, dann die Protestdemo an der Mauer abgesagt. Was solls, kann nicht jeder Tag voller Aktion sein. Gestern ging es ja ziemlich rund, die Filmaufnahmen sind gut geworden. So hatten wir Zeit eine Schule in Anata zu besuchen, durch deren Schulhof nun die Mauer geht. Absurd.Der Schuldirektor führt uns aufs Flachdach. Von oben können wir auf das Basketballfeld blicken. Auf der Mittellinie - Betonteile. Sie bilden jetzt eine Wand zum Fussballspielen. Im Sportunterricht laufen die Schueler nun kleinere Runden - die andere Hälfte ihres Pausenhofes liegt im Niemandsland. Ein Lehrer zeigt uns Erinnerungsstücke. Gasgranaten, und leere Aluminiumhülsen, gefunden im Umfeld der Bildungsstätte. Anschauliche Andenken an Auseinandersetzungen mit israelischen Soldaten vor einigen Monaten. Im Schulflur hängen Wandzeitungen. Auf ihnen die Idole der Jugendlichen: das Team von Weltmeister Brasilien, Zinedine Zidane und Michael Ballack. Daneben drei Bodybuilder aus Palästina.
Weiter nach Al Ram. Dort wo heute eigentlich die Demo stattfinden sollte. Durch einen Lüecke im Beton quält sich der Feierabendverkehr. Die Kreuzung, auf der wir vor einem Jahr Filmaufnahmen machten, ist komplett abgeriegelt. Später sehen wir erste Graffities: "The wall must fall" und der Schattenriss eines Mädchens, die von Luftballonen in die Lüfte gehoben, über die Mauer fliegt. Eine schöne Illusion.
sun, 13.11.05 - 4:55 p.m.
Gute Fotografen stehen früh auf, bessere noch etwas eher. Also 05:15 Uhr den Handy-Wecker gestellt, vor Schreck aber schon eine dreiviertel Stunde vorher wach gewesen. Im Sonnenaufgang geht es zum Qalandiya-Checkpoint. Hier ist die Mauer in einem Jahr mächtig zusammen gewachsen. Über all dem trohnt ein mehr als zehn Meter hoher Wachturm, der aber noch nicht besetzt ist. An Strassenstaenden wird Kaffee und süsse Teilchen verkauft, staendig hupt es. Taxies und Laster drängeln aneinander vorbei, wirbeln jede Menge Dreck auf. Da bleibt keine Linse lange sauber. In all dem Chaos hat es sich ein Mann auf eine neuen Kleinbussitzbank gemütlich gemacht. Hinter ihm stehen Mauerteile. Ein perfektes Motiv.Dann weiter zur Schule mit dem geteilten Pausenhof. Wir kommen gerade recht, der Unterricht hat noch nicht begonnen. Nach zweifachem klingeln stehen sich die rund 700 hintereinander in ein Dutzend Reihen. Lehrer gehen auf und ab, schwingen 30 Zentimeter lange schwarze Stöcke. Aus dem Lautsprecher dröhnt eine Stimme - zum Tagesbeginn gibt es dann ein wenig Frühsport. Kurz darauf erschallt die palästinensische Hymne und die Jungs strömen in den Schulbau.
Am Rande steht eine Pressluftbagger. Er wird in den nächsten Stunden für Krach sorgen. Schliesslich muss der Schulhof erweitert werden, seitwärts. Nach hinten geht nicht mehr. Da ist jetzt Niemandsland, stehen heute zwei Jeeps der israelischen Armee. Gegen acht Uhr beginnt die Schule. Im Sportunterricht hopsen Achtjährige über die Sockel von Mauerteilen. So kann man auch fit fürs Leben werden.
Mittag am Grab von Arafat in Ramallah. Hübsch ist es geworden. Kurz geschnittener Rasen umgibt den Marmorfussboden, der Staub vom November 2004 ist verschwunden. Ueber dem Grab ein gläsernes Mouseleum. Es duftet nach frisch geschnittenen Blumen. Wenig Besuch ist gekommen. Am Eingang zur Muktata lungern vier Journalisten herum. Heute sollen noch ein paar Aussenminister aus Europa kommen, morgen hat sich Condolezza Rice angesagt. Routinearbeit. "Nichts hat sich geändert, Nichts" sagt einer der Fotografen schulterzuckend als wir ihn auf den ersten Todestag von Jassir Arafat ansprechen.
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mon, 14.11.2005 - 7:15 p.m.
Auf Erkundungstour im Norden der West-Bank. In ein Gebiet, in das sich eigentlich nie Touristen verirren. Das Absurde beginnt am Checkpoint in Tulkarem. Wir fahren in das Westjordanland, erwischen die falsche Strasse. Umdrehen, zurueck zum Checkpoint. Von der Westbank in die Westbank - und da beginnt das Problem. Die Pässe werden abgenommen, dann wird telefoniert, wir müssen zur Seite fahren. Nach zehn Minuten dann "you can go". Zwanzig Meter weiter, der nächste Checkpoint. Gerade wird ein Laster kontrolliert. Vor uns vier Autos. Ein paar Minuten dann rollt der Verkehr, alle fahren zuegig durch. Die Soldaten stehen teilnahmslos mit dem Rücken zur Strasse. Auch wir passieren. Nach dreizig Metern hämmert es auf das Dach, ein Soldat steht neben dem Fenster. "STOP, go back". Verstehe einer die Welt."TO EXIST IS TO RESIST" - diese Losung hat ein mexikanischer Künstler auf den Beton gestrichen. Wir sind in Nazlat Issa, dort wo der Betonwall quer durch das Dorf geht. Auf einer Terasse sitzt ein Vater und hilft seinen Kindern bei der Hausaufgaben. Hinter ihm seine leere Fleischerei. Vor ihm rollt sich der Stacheldraht, reckt sich Beton in den Himmel. Hier gibt es keine Sonne mehr.
Er begrüsst uns freundlich. Kai Wiedenhoefer kennt er schon. Er hat hier schon vor Jahren fotografiert. Als die Mauer noch nicht stand, Häuser eingerissen wurden. "Kai, wenn du in zehn Jahren wiederkommst, wird es genauso aussehen". Seine warmen braunen Augen blicken ins Leere. Es ist eine traurige, eine bittere Geschichte.
Wenig später laufen wir eine Anhöhe hinauf. Jasif zeigt uns den "Sicherheitszaun". Das ist der Teil, der Grenzlinie, an dem keine Mauer steht. Oben gibt es ein Tor erklärt er uns. Dort geht es zu ihrem ehemaligen Land, zu ihren Olivenbäumen. Geöffnet ist von 7 bis 9 Uhr am Morgen und dann noch um die Mittagszeit. Er selbst hat keine Genehmigung zu passieren, aber ein Besuchervisum für Schweden in der Tasche. Von dort will er nicht mehr zurückkehren. Hier, in Nazzlat Isla - in der nördlichen Westbank - gibt es keine Zukunft mehr, erzählt er uns
tue, 15.11.2005 - 7:33 p.m.
Im Auto nach Bethlehem. Dort wo vor einigen Tagen noch die israelischen Posten standen, ist alles verwaist. Ist über Nacht der Frieden angebrochen?! Mitnichten. Am Morgen wurde eine moderne Abfertigungsanlage in Betrieb genommen. Wir müssen vor einem schußsicherem Postenhäuschen halten. Dann geht elektronischen Schranke auf, die Schiene mit dem neuen Stahlspitzen versinkt im Boden. Seit 7 Uhr Morgens hat das Provisorium der Grenzabfertigung hat ein Ende. Pünktlich zum palästinensischen Unabhängigkeitstag.Wenig später im Flüchtlingslager Aida. An der Zufahrt - mitten auf der Strasse - zwei blaue Müllcontainer. Sie geben eine hervorragende Deckung ab. 50 Meter weiter ist der neue Grenzturm am Sockel bereits kohlrabenschwarz. Weiter oben haben Dutzende Farbbeutel ihr Ziel nicht verfehlt. Wir halten an einer Fabrik deren eine Seite wie eine Fischdose aufgerissen ist. "Hier ist eine Panzergranate eingeschlagen" sagt Kai Wiedenhöfer. 2002 zu den Zeiten der Zweiten Intifada. Auch hier Graffiti und davor jede Menge Bauschutt. Es stinkt wie auf einer Müllkippe. Gemütlich ist es hier nicht. Beim Rausfahren immer schoen relaxt bleiben. Die Schweiben runter, entspannt winken. Nit einer gelben isrealischen Autonummer ist man hier nicht wirklich beliebt. Egal ob ein TV-Zeichen vorne klebt. Das Auto vor uns bekommt einen Stein ab, wir passieren ohne das es irgendwo einschlägt.
thu, 17.11.2005 - 2:47 p.m.
Ein japanischer Tourist steht vor einem Drehkreuz aus Stahl. Es piept unablässig, nacheinander leuchtet eine grüne und eine rote Lampe auf. Nix geht. Der Japaner ist gefangen. Dabei wollte er doch nur von Bethlehem nach Jerusalem gelangen.Ende eines Ausflug zur Geburtskirche Jesu.
Nur noch wenige Touristen verirren sich an diesen biblischen Ort. Der Platz vor der einstigen Besucherattraktion im Westjordanland ist weitgend leer, durchs Kirchenschiff kann man ungehindert schlendern. Der Bürgermeister von Bethlehem wähnte seine Stadt jüngst bereits kurz vor der Pleite.
Doch einen Japanaer hält bekanntlich wenig vom Reisen ab. Auch vier Drehkreuze nicht. Das grell helle Neonlicht in der neuen Abfertigungsanlage am Checkpoint in Bethlehem dürfte manchem Globetrotter bekannt vorkommen. Auch am Grenzübergang Berlin-Friedrichstrasse leuchtete es einst ähnlich.
Mit dem Mauerbau schafft Israel Fakten. Mit den neuen Checkpoints auch. Das sind keine provisorischen Kontrollstellen mehr, sondern befestigte Grenzübergänge. Und die Mauer: im Norden der West-Bank ist die Grenze durchgehend, in Jerusalem ist dies nur noch eine Frage von Monaten. Mit der kompletten Abriegelung wäre dann auch ein eigener Palästinenserstaat möglich. Vielleicht hat die israelische Regierung genau das im Sinn. Willkommen im dann grössten Gefängnis der Welt, möchte man fast zynisch meinen.