'Mission Klassenerhalt' (III) - Im Fanzug zum BFC Dynamo
Es gibt ein Stadion im Leipziger Nordwesten, da scheint die Zeit stehengeblieben, Vergangenheit gegenwärtig zu sein. 1964 wurde hier - im Leutzscher Holz - die BSG Chemie Leipzig völlig unerwartet DDR-Meister. Später spielte der Verein meistens in der zweiten Liga, Staffel C, bis er irgendwann ganz verschwand. Ein paar Unermüdliche fingen - zu Beginn des neuen Jahrtausend - in der 12. Liga wieder neu an. Jahr um Jahr ist 'Chemie' seitdem aufgestiegen, spielt nun in der Regionalliga Nordost. Muss sich dort mit dem 1. FC Lok Leipzig, Energie Cottbus und dem BFC Dynamo messen. Partien mit einiger Brisanz. In 'Mission Klassenerhalt' begleiten wir die Mannschaft durch die Saison.
von Fritz Rainer Polter
13. Ligaspiel + Chemie Leipzig - VSG Altglienike 1:1 + Platz 15 (von 18) mit zwölf Punkten
12. Ligaspiel + BFC Dynamo - Chemie Leipzig 3:0 + Platz 15 (von 18) mit elf Punkten
Auf dem Hauptbahnhof Leipzig versammeln sich die Chemiker ab 8.30 Uhr auf dem Querbahnsteig vor dem Bahngleis 11, wo der von den Chemie-Fanclubs selbstorganisierte Sonderzug zum Gesundbrunnen bereitstehen soll. Tut er nicht, und als der zirka eine halbe Stunde verspätet einrollt, fehlen zwei der angedachten sieben Hänger. Die Gründe dafür bleiben unklar, einige munkeln von einem Rangier-Versagen der Bundesbahn, andere wiederum wollen dies nicht glauben, und mutmaßen, die zwei Hänger wären wohl von uns nicht bezahlt worden. Wie auch immer, leiden müssen die Fans, welche wie Sardinen in der Büchse zusammengedrängt werden. Sitzplätze gibt es nur für zirka die Hälfte der 850 Reisenden in Grün/Weiß, die andere Hälfte muss in die Gängen sehen, wie sie die zirka zweieinhalb Stunden lange Fahrt übersteht.
Und das wird schwierig. Es wird reichlich Bier konsumiert, und schon bald bilden sich bis tief in die Hänger reichende Schlangen an den Toiletten mit Wartezeiten bis zu 30 Minuten. Schon bald halten es einige nicht mehr aus und nutzen, sagen wir: durchlässige, durch Licht zu erspähende Vakanzen in den kleinen Übergängen zwischen den Hängern. Auch dafür muss man lange anstehen. An den offen Notdürftig-Vollziehenden vorbei passieren nun die mit Sandwichs und Bockwurst ausgestatten Fans, Männer wie Frauen, welche die Wartezeit an den Versorgungständen ausgestanden haben. Eklig, doch Not kennt wenig Gebot. Und es wird zünftig und ohne Rücksicht überall geraucht, sodass Nichtraucher mit Atemschwäche wie ich unsagbar leiden. Allerdings sind die Zwischenabteile mit den Raucherinseln wie überhaupt der gesamte Zug hoffnungslos überfüllt. Die Raucher haben also gar keine andere Option.
Schlimm, dass es in Deutschland noch so viele Raucher gibt. Ich behelfe mich mit hochprozentigen Sachen und öffne meinen Tetra Pak, angefüllt mit 1,5 Prozent fetthaltiger, laktosefreier Milch, was von den Alkoholkonsumierenden um mich herum, sagen wir: durchaus beachtet, und kontrovers kommentiert wird. Ich stehe allein und ohne jede Kommunikation in einer Ecke eines Zwischenabteils, gestützt von einem metallenen Abfallbehälter unter einem Fenster. Zum Glück möchte diesen niemand nutzen. Oder sagen wir, keiner sieht ihn mehr, da ich ihn halb sitzend, halb lehnend, okkupierte. So muss ich nicht wenigstens andauernd auf den Durchgangsverkehr reagieren, wie all jene, die auf den Treppen der Aufgänge oder im Gang sitzen. Durch die verzögerte Abfahrt kommt es immer wieder zu Wartezeiten an den Signalen. Oft hat man sogar den Eindruck, jetzt ginge es wieder zurück. Oder nach Berlin über Cottbus.


Kurz vor dem Stadion, auf einer der für uns für den Verkehr gesperrten Hauptstraßen, wird dann auch das Wort „Stasischweine“ skandiert. Andere wiederum versuchen, dies zu übertönen; jenes Wort durch: „Nazischweine“ substituierend. Das ergibt dann natürlich einen seltsamen Zwei-Wort-Brei. (So geschieht es auch später im Stadion). Wieder andere brüllen: „Keine Politik!“ Die unterschiedlichen Auffassungen sind teils kurz vor der jeweiligen Handgreiflichkeit, können aber Schluss-endlich entschärft werden. Ich versuche zu vermitteln, entschuldige mich auch bei der Berliner Polizei in Gestalt einer uniformierten, blonden, jungen Frau für unser Not-wässern an grünen Hecken nach der langen Zugfahrt und oben geschilderter Situation. Bin halt gut erzogen.Aus unverständlichen Gründen lässt man uns vor dem Jahn-Sportpark wieder zirka 20 Minuten warten, sodass der Anpfiff runde 20 Minuten verzögert wird. Die Kontrollen wirken unprofessionell und schleppend. Schließlich gibt man seitens des Einlasses doch noch Gas, geht offensiv und vorausdenkend in die Zuschauer rein, und plötzlich läuft es. Wieder einmal weit und breit nichts zu sehen von einem Stadionheft. Eine Frechheit für alles die BSG Chemie betreffend Sammelnde wie mich.


In der zweiten Halbzeit bäumt sich Chemie zunächst auf, überlässt dem Gegner jedoch zu viele Räume. So reicht dem eine einfache Kombination zum 2:0. Später erzielt David Malembana durch einen Fern-Freistoß gar noch das dritte Tor für den BFC, bei welchem unser Torwart erneut alles andere als gut aussieht. So langsam verstehe ich, warum Benny Kirsten beim Ortsrivalen, der ihn ja an uns abgab, vor ihm als gesetzt galt. Bei Julien wechseln sich halt geniale Momente mit Fehlgriffen, Zögern und falschen Entscheidungen ab. Trotz aller Bemühungen belohnt Chemie sich nicht wenigstens noch mit einem Ehrentor. Wie von mir nicht anders erwartet, schießt auch unser eingewechselter Stürmer Tommy Kind aus aussichtsreicher Position am Tor vorbei. Wie so oft bedankt sich die Mannschaft lange und ausgiebig bei den zirka 1400 mitgereisten Gästefans, denen nur unerheblich mehr Heimfans gegenüber traten. Die staunten nicht schlecht, als sie das Lied mit den Chemie-Schweinen skandierten, und wir alle mitmachten. Wir sind nämlich stolze Chemie-Schweine seit der Sache mit dem kleinen Ferkel, welches uns dereinst als Glücksschwein diente. Ob unsere Einpeitscher mit den Megaphonen nicht ein wenig zu weit gingen, als sie Berlin lautstark als „Scheißstadt“ bezeichneten? Aus meiner Sicht: ja. Unsere Moral hielt, unser Vermögen vor dem Tor des Gegners war wieder einmal nicht existent.


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