'Mission Klassenerhalt' (V): Punkt für Punkt
Es gibt ein Stadion im Leipziger Nordwesten, da scheint die Zeit stehengeblieben, Vergangenheit gegenwärtig zu sein. 1964 wurde hier - im Leutzscher Holz - die BSG Chemie Leipzig völlig unerwartet DDR-Meister. Später spielte der Verein meistens in der zweiten Liga, Staffel C, bis er irgendwann ganz verschwand. Ein paar Unermüdliche fingen - zu Beginn des neuen Jahrtausend - in der 12. Liga wieder neu an. Jahr um Jahr ist 'Chemie' seitdem aufgestiegen, spielt nun in der Regionalliga Nordost. Muss sich dort mit dem 1. FC Lok Leipzig, Energie Cottbus und dem BFC Dynamo messen. Partien mit einiger Brisanz. In 'Mission Klassenerhalt' begleiten wir die Mannschaft durch die Saison.
von Fritz Rainer Polter26. Ligaspiel + Chemie Leipzig - VfB Germania Halberstadt 0:3 + 15. Platz mit 24 Punkten
Vielleicht lag es ja an mir. Sven ist heute wieder dabei, und ein Kumpel von ihm, den ich entfernt kenne, kommt extra auf mich zu und meint sinngemäß, ich solle weiter so Dinge glauben, die sich im Nachhinein als absurd erwiesen: Das wir Meuselwitz und Auerbach nicht schlagen könnten, zum Beispiel. Und dass er im Umkehrschluss sehr beruhigt wäre, wenn ich ihm versichern würde, dass ich denke, dass Halberstadt heute gewinnt. Also bin ich ihm dahingehend gefällig. Dabei denke ich heimlich für mich, dass sich die Mannschaft nach dem enttäuschenden Unentschieden gegen den Tabellenletzten und quasi feststehenden 1. Absteiger Luckenwalde unter der Woche wieder fangen wird, und hier, zu Hause im Alfred-Kunze-Sportpark, die dringend gebrauchten drei Punkte einfahren kann. Sodass dann also, wie so oft, das Gegenteil von dem eintritt, was ich im Vorfeld mutmaße. Auch wenn das bei mir mit Mut oft nichts zu tun hat.
Chemie beginnt gar nicht schlecht, hat in der gesamten 1. Halbzeit das Heft des Handelns in der Hand, und lässt nur wenig zu. Kurz vor der Pause kommt es für zu einer Großchance für unseren Stürmer Pierre Merkel. Aber er und Alexander Bury verpassen. Das rächt sich bitter: In der 51. Minute reicht es für Halberstadt, zum ersten Mal im Spielverlauf , wie man so schön sagt, „durch zu sein“, und seitlich rechts vor das Tor von Chemie zu gelangen. Der Schuss von Gillian Jurcher sitzt, und es steht Null zu Eins. Noch mache ich mir keine Sorgen, denn in letzter Zeit haben wir auch Spiele gedreht. Aber Halberstadt löst die bis dahin angezogene Handbremse und spielt nun freier auf. Und wieder einmal zeigt sich der Vorteil, die eine quasi unter Profi-Bedingungen arbeitende Mannschaft gegen Feierabendfußballer wie die unseren hat. Sie merken, dass heute hier was geht gegen Chemiker, die sichtlich zunehmend ausgepowert wirken von den Anstrengungen der letzten Spiele. Irgendetwas fehlt heute wieder bei uns; sei es nun der Biss, der Glaube, die Entschlossenheit, die Kaltschnäuzigkeit. Vieles wirkt halbherzig, lasch beinah, im Abwehrverhalten zunehmend unkonzentriert. Das Agieren der Unparteiischen macht es für uns heute auch nicht leichter, wie so oft.
Folgerichtig passieren auch unserer Abwehr krasse Fehler. Manuel Wajer und Tim Bunge müssen sich fragen lassen, wo sie in der 79. Minute mit ihren Gedanken waren, denn verteidigen kann man das nicht nennen, was ihnen da an träumerischer Passivität widerfährt. Und an einem Tag wie diesen rutscht unserem Torhüter Lattendresse-Levesque der Ball auch noch aus den Fingern. Null zu Zwei. Wieder ist es der Halberstädter Jurcher, der die Vorentscheidung herstellt. Zehn Minuten verbleiben noch, doch uns allen dämmert so langsam auf, dass Chemie hier auch noch zwei Stunden spielen könnte, ohne einen Treffer zu erzielen. Grabesstille macht sich breit, selbst bei den Ultras, die ihre Fahnen schon mal einrollen. Ein Konter bringt dann auch noch in der 86. Minute das Null zu Drei ein, egal. Keiner spricht schon von Abstieg, aber klar ist, dass es nunmehr ganz schwer wird. Pünktlich zum Abpfiff zieht eine polare Kälte auf, die zu meiner Stimmung passt.
Am Mittwoch folgt die schwere Aufgabe auswärts in Nordhausen. Dann beginnt eine Serie von Hammer-Spielen gegen alle Berliner Vereine der Regionalliga Nordost in Folge. Darunter das Spiel gegen den BFC Dynamo. Dessen Fans ihres am 3. November 1990 durch einen Polizisten erschossenen Anhänger Mike Polley in einer Veranstaltung am Alten Leutzscher Bahnhof gedenken wollen. Anschließend soll es einen Fanmarsch zum Stadion geben. Wir werden dabei sein und darüber berichten.
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25. Ligaspiel + FSV Luckenwalde - Chemie Leipzig 1:1 + 14. Platz mit 24 Punkten
24. Ligaspiel + Chemie Leipzig - ZFC Meuselwitz 2:0 + 15. Platz mit 23 Punkten
Unsere Ortsrivalen, die blau/gelben aus „Obstweida“ (die anderen, die rot/weißen sind für uns keine Ortsrivalen, sondern Österreicher), wollen mit aller Macht in die Dritte Liga. Das wirkt auf mich schon ungeheuer verkrampft, so sehr, wie die das anstreben. Zumal: Ohne ihre Hausaufgaben hier, in der Regionalliga Nordost, erst einmal erledigt zu haben. Dazu würde aus meiner Sicht zwingend gehören, dass man die sogenannten „Angstgegner“ (und Lok hat deren viele) auch einmal in der aktuellen Spielklasse klar und deutlich schlägt, bevor man von einer Liga träumt, für die man nicht einmal ein bespielbares Stadion (und auch sonst kaum Voraussetzungen) hat. Den ZFC Meuselwitz haben die Lokisten seit ihrer Neugründung noch niemals besiegen können. Darum würde es mich heute doppelt freuen, wenn wir die 3 wichtigen Punkte gegen den Abstieg mitnehmen, und der Mannschaft Probstheida gleichsam als Zuckerguss damit auch zeigen, wie man sowas anstellt. Weil die sich gegen die Mäusel halt immer so anstellen. Okay, 3 Euro in die Flutlichtkasse, versprochen.
Jens (aus der Nähe von Torgau) ist mit dem Auto angereist, und wir fahren bei zunehmenden Temperatur und annährend 18° Celsius mit meinen beiden Kettler-Rädern langsam und genüsslich nach Leutzsch zum Stadion. Martin ist verständlicherweise bei seiner Mutter, die der Pflege bedarf; und Sven (der mit dem Rad gar aus dem Anhaltinischen kommt) treffen wir im Stadion. Auch der Jens, unser Sponsor von der Bücherinsel, hat sich her gequält, aber er ist gesundheitlich sichtbar angeschlagen mit einer Art Dauer-Infekt. Apropos angeschlagen: Neugierig bin ich auch auf den Zustand unserer in Stein verewigten Meisterelf von 1964. Ausgerechnet die Figur des Dieter Scherbarth, die „Schere“, wurde von einem umgestürzten Baum getroffen, der ihm eine Hand amputierte. Ich hoffe, dass das kein schlechtes Omen war.

Denn Hand und auch Fuß hat es doch zurzeit wieder, wie wir so auftreten. Drei Spiele ungeschlagen, und heute soll es so weitergehen. Zur Sanierung der Schere-Figur wird heute Geld gesammelt. Zirka 2000 Euro werden benötigt. Auch die Eintrittskarten für das Pokalhalbfinale in Auerbach gibt es heute zu kaufen. Dazu wurden 10 Busse für die Fahrt angemietet, und auch dafür kann ich gerade noch eine Karte vor dem Spiel erwerben. Sven hat zwar das Eintrittsticke-t, aber nicht die Karte für den Bus bekommen. Da muss er unter der Woche nochmal hin, wenn es wieder Nachschub geben soll. Sein Weg auf die Arbeit führt ja sowieso am Stadion vorbei. 2690 Zuschauer heute. Bisschen wenig, für dieses super-Wetter. Meine ich.




In Bezug auf die Farbe Gelb viel zu oft ungestraft! Den Schneid indes hat Chemie der Truppe von Zipsendorf gleich von Anfang an abgekauft. Es stimmt einfach nicht, dass der Gegner den Sieg herschenkte, dazu knieten die sich viel zu sehr rein in die oft von ihnen unfair geführten Zweikämpfe, für die sie am Ende dann auch 5 gelbe Karten sahen (wobei mindestens zwei Gelb-Rote angebracht gewesen wären). Meuselwitz hatte nicht eine ordentliche Torchance, und am Ende waren sie einfach platt und frustriert und unkonzentriert. Chemie war in allen Belangen überlegen.
Unser Trainer Demuth liegt heute genau richtig mit seinen Wechseln. Bunge für Bury (57. Minute), der wie immer alles gegeben hat. Bunge sorgt für die notwendige Konsequenz in den Zweikämpfen. Der Trainer bringt Stelmak für den ausgepowerten Merkel (69. Minute) – und Stelmak wirbelt nicht nur wie bislang, sondern es lassen sich Ansätze einer zunehmenden Eingespieltheit mit Mittelfeldlern wie Yajima erkennen. Er und Bunge und Tommy Kind, der in der 74. Minute für Daniel Heinze kam, werden gegen Ende der zweiten Halbzeit zunehmend torgefährlich. In der 79. Minute setzt sich der eingewechselte Brandon Stelmak gleich gegen vier! Gegenspieler durch, kommt durch eine geschickte Körperdrehung in den Gegner zur Flanke – und findet den schier blank stehenden Tommy Kind – Tooor für Chemie Leipzig!

Zum zweiten Mal haben wir gezahlt, für deren ihnen von uns abgekauften Schneid. Danke, gerne. Aus, vorbei. Da staunt ein jeder Erz-Lokist: den Sieg erringt hier der Chemist! Zum vierten Mal in Folge ungeschlagen! Und Tommy Kind hat endlich mal wieder ein Erfolgserlebnis! Drei Punkte sind da, die Ortsrivalen über die Sache mit dem Angstgegner belehrt es darf gefeiert werden. Mann, bin ich froh! Chemie, Chemie, nur noch Chemie! Noch schnell ein Bild der Meisterelf von hinten, dann mit dem Rad retour.


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23. Ligaspiel + Chemie Leipzig - VfB Auerbach 2:2 + 16.Platz mit 20 Punkten
Durch zwei Tore „meines“ Japaners Rintaro Yajima hat Chemie sensationell das Auswärtsspiel in der vorigen Woche bei Union Fürstenwalde mit 2:1 gewonnen, das gibt Grund zu neuer Hoffnung. Heute kommt mit dem VfB Auerbach ein direkter „Mitbewerber“ um den Abstieg nach Leutzsch, die müssen wir schlagen, um sie tabellarisch erst einmal hinter uns zu lassen. Auch wenn die Phrase, die Tabelle würde nicht lügen, in allen Fußballtalks stets omnipräsent ist – bei uns Tabelle verschoben zu lesen ist, weil niemand sonst bereits so viele Spiele absolviert hat, wie wir. Außerdem wurde uns ja Auerbach als Gegner für das Halbfinalspiel im Sachsenpokal zugelost, da sollten wir hier, zu Hause bei uns, denen eine deutliche Lektion verpassen, denn im Pokal müssen wir dann im Vogtland antreten, was schwer genug wird. Auerbach hat auswärts noch nie gewonnen in dieser Saison; wir hingegen haben gerade unseren ersten Auswärtserfolg absolviert. Das macht uns Mut, dem Jens aus der Nähe von Torgau, und mir, als wir uns bei klirrender Kälte in das Stadion begeben, und Sven auf dem Norddamm treffen.
Das 0:1 für den VfB Auerbach
Als die Aufstellung verlesen wird, müssen wir besorgt zur Kenntnis nehmen, dass mit Alexander Bury eine unserer stärksten Waffen Grippe-geschwächt fehlt. Statt seiner darf Tim Bunge beginnen. Dominik Heine im Tor statt Julien Lattendresse-Levesque, dass lässt aufhorchen. Trainingsleistung schwach bei Latte, sickert durch. Heine wäre für manche ohnehin die bessere Nummer 1, aber nicht für mich. Mal sehen, was perspektivisch daraus wird.
Chemie wäre nicht Chemie, wenn es konsistent so weitermachen würde, wie in den letzten beiden Spielen. Die Mannschaft spielt wieder mit angezogener Handbremse, Siegeswillen oder das Vorhaben, den Gegner heute hier vorzuführen, sind in der 1. Halbzeit nicht erkennbar. Da läuft so gut wie gar nichts zusammen, das Offensivspiel wirkt immer noch planlos, da wird dem Ball hinterher geschaut, statt zu handeln, da wirkt aber auch nicht eine Aktion einstudiert. Und mit der Abwehr läuft es nicht besser. Viele fahrige, teils fahrlässige Aktionen gerade von Karau und Wajer bauen den Gegner langsam, aber sicher auf.
In der 26. Minute erzielt der Auerbacher Philipp Kötzsch nach einem Kontor dann auch folgerichtig den Führungstreffer. Das ging erschreckend einfach, da war keiner unserer Leute auch nur annähernd bei ihm. Danach gab es noch einen Freistoß für uns, den Lars Schmidt aber schlecht ausführte. Überhaupt sind unsere Standards heute weit entfernt von den Leistungen der beiden letzten Spiele. Selbst unser Japaner gefällt mir in der ersten Halbzeit nicht, Pierre Merkel war noch einer der besten. Genau dies sollte sich nach dem Wiederanpfiff drehen: Yajima drehte auf, Merkel wurde schwächer. Die Auswechselbank
Nach der Halbzeit bringt unser Trainer mit Brandon Stelmak einen zweiten Stürmer auf den Platz. In der ersten Viertelstunde scheint bei Chemie aber weiterhin gerade in der Offensive wenig zusammen zu laufen. In Minute 56. Können die Auerbacher folgerichtig auf 0:2 durch Danny Wild erhöhen. Aber auch das gilt heute: Chemie wäre nicht Chemie, wenn es nicht auch öfter mal für eine positive Überraschung gut wäre. Die Siege gegen Bautzen und Fürstenwalde haben der Mannschaft einen ungeheuren Auftrieb gegeben, das Selbstvertrauen enorm gestärkt. Wir haben erfahren, dass wir Spiele drehen, oder zumindest geradebiegen können. Sind wir in den Spielen vorher stets nach den Führungstreffern unserer Gegner eingebrochen, erwacht nun unser Ehrgeiz, unser Wille, unser Glaube an uns. Und das ist wirklich etwas grundlegend neues, großartiges. Selbst der zweite Treffer der Auerbacher haut uns nicht um. Jetzt weiß ich wieder, warum Chemie auch in diesem Lebensabschnitt so gut zu mir passt, und vize versa: Das Schlimme muss erst einmal passieren, die Niederlage muss erst einmal zugelassen und akzeptiert werden, bevor wir, - ich und Chemie, - uns dagegen mit aller Kraft stemmen. So war es bei mir schon 1987 in den Strudeln der Unstrut, in denen ich als Nichtschwimmer mit dem Boot kenterte, und beinah ertrunken wäre. Bevor ich die Kraft entwickelte, wie ein Hund mit den Händen in das Wasser zu schlagen, gab ich mich erst einmal auf, sank scheinbar willenlos auf den Grund.
Jetzt geht’s endlich los, könnte man meinen. Chemie spielt nach vorn, sucht seine Chancen.. Die Auerbacher versuchen eine Wiederholung des 0:1 durch Kontern, aber diesmal passen wir auf. In der 63. Steht unser Stürmer Merkel nach einem langen Pass relativ frei oder ohne ausreichende Attacke der ihn umgebenden Auerbacher vor dem Tor, zirkuliert den Ball gefühlvoll ins untere linke Eck – Anschluss! Wie irre rennt der Merkel mit dem Ball zum Mittelkreis und legt ihn ab. Jetzt ist allen klar: Chemie will das Ding hier noch drehen! Die Mannschaft ist da, die Fans sind da. Der Anschlusstreffer (1:2) durch Pierre Merkel
Auerbach wirkt erstaunlich platt, hat den Angriffen von Chemie kaum noch etwas entgegenzusetzen. Folgerichtig ist es in der 67. Minute wieder unser Japaner Rintaro Yajima, der sein drittes Saisontor wunderschön vollendet. Der Unterschied zu anderen Schützen bei uns: Rintaro will den Ball eben nicht in das Tor tragen, Rintaro zielt aus der Ferne mit dem Außenriss ab, und mit Gefühl. Der Ball entwickelt sich zur Bogenlampe, die dem Torwart keine Chance lässt. Ausgleich nach zwei Toren Rückstand, wo gibt’s denn bei uns sowas? Der Jubel ist groß, Jens und ich stoßen wie irre in die Hörner. Will sagen: in die Schalmeien.Der Presse'balkon'
Nun entwickelt sich so eine Art offener Schlagabtausch, denn auch Auerbach macht wieder mit. Kurz vor Schluss vergibt Pierre Merkel sogar in echter Mario-Gomez-Manier eine Riesenchance zum Siegtreffer. Es ist vollbracht, es ist keine Niederlage. Keine Sieges-Serie, aber eine Ungeschlagen-Serie. Nächste Woche geht es zum Schlusslicht Luckenwalde. Da müssen dringend drei Punkte her, wenn der Hauch meiner Resthoffnung weiterleben soll. Das wird schwer genug, denn auch wenn Luckenwalde schon als erster Absteiger festzustehen scheint: Ex-Lok-Spieler Daniel Becker wird viel dagegen haben, uns die Punkte so einfach zu schenken. Aber wir haben Rintaro-San, unseren neuen Fußballgott, der sich die Haare gern wie ein echter Samurai frisieren lassen würde. Der mit dem Fahrrad zum Training kommt. Der auch im Falle eines Abstiegs wahrscheinlich bei uns bleiben will.
Was nehmen wir mit, aus diesem Spiel? Die Moral, die Psyche, die Grunderfahrung, selbst so einen Rückstand drehen zu können. Auerbach ist gewarnt für das Pokalspiel! In der Regionalliga Nordost ist und bleibt die Situation für uns bescheiden: Witterungsbedingt haben viele andere Teams zwischen 3 und 5 Nachhohlspielen vor sich, könnten uns also noch überholen (Neustrelitz), oder absolut hinter sich lassen (Auerbach, Bautzen Altglienicke). Mit Rot-Weiß-Erfurt und dem Chemnitzer FC werden wohl zwei Drittligaabsteiger in unsere Staffel angelangen, und wenn dann Cottbus die Aufstiegsrelegation gegen wahrscheinlich den TSV 1860 München nicht schafft, würde uns am Ende nur der 14. Tabellenplatz retten. Es sei denn, es gäbe Abmeldungen oder Insolvenzen in der Regionalliga Nordost. Hätte, wäre, Spekulatius. Auf geht’s Chemie, kämpfen und siegen!
All words and pictures by Fritz Rainer Polter
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22. Ligaspiel + Union Fürstenwalde - Chemie Leipzig 1:2 + 16. Platz mit 19 Punkten
21. Ligaspiel + Chemie Leipzig - Budissa Bautzen 1:0 + 16. Platz mit 16 Punkten
Nach 765 Minuten ohne Tor trifft Pierre Merkel für Chemie zum 1:0 Sieg
Heute geht es um alles: Wird mir, - in meinem 50. Jahr in Leutzsch, - die Mannschaft zum Anlass der Vollendung meines 56. Lebensjahres einen Sieg als Geschenk liefern, oder muss ich mich auch zum Geburtstag ärgern? Das ist die Frage aller Fragen, und der wollen wir uns heute stellen, der Jens K. aus Torgau und ich. Indem wir uns bei eisiger Kälte auf den Norddamm stellen. Jens hat die Schalmei dabei, ich die Kamera. Die Aufgaben sind klar verteilt. Es steht nicht gut um die Eltern meiner Freunde: Sven (der im Winter-Kurzurlaub weilt), hat seinen Vater verloren, und Martin, der für diese Kolumne so viele wunderbare Fotos beigesteuert hat, muss um die Gesundheit seiner Mutter fürchten. So ist auch er heute nicht präsent. Martin 2, Jörg und Jens Fö. sind anwesend. Insgesamt sehen leider nur knapp über 2000 Zuschauer das Spiel.
Die erste Halbzeit gerät zu einem Kampf und Press-Schlagabtausch, bei welchem weder Chemie noch Bautzen zu richtigen Großchancen kommen. Unser Stammkeeper Julien Lattendresse-Levesque ist nach seinem Magen-Darm-Infekt, welcher ihn vorige Woche an der Teilnahme des Spiels in Babelsberg hinderte (Chemie verlor auswärts schmerzlich 0:4), wieder fit und entschärft mehrere Chancen der Bautzner. Bei einem Pfostenschuss von Tony Schmidt in der 17. Minute hat er Glück. Bei Chemie ist es heute besonders Nicolaus Ludwig, welcher mir gut gefällt. Neuzugang Pierre Merkel steht in der Startelf, Beiersdorf (von RB Leipzig) und Brandon Stelmak sitzen auf der Bank. Mit Alexander Bury lässt Trainer Demuth unseren vielleicht wichtigsten Spieler ebenfalls auf der Bank. Dies überrascht. Viel mehr gibt es nicht zu berichten von der ersten Halbzeit.
Stets frage ich mich besorgt, wie Chemie aus der Pause kommen wird. In der jüngeren Vergangenheit hatte ich fast immer Grund zur Sorge, meistens ließ das Team stark nach, wirkte oft unkonzentriert und weniger dynamisch. Auch heute erscheint es mir zunächst so. Immerhin wir Alexander Bury eingewechselt. Die Bautzner beginnen entschlossener, scheinen es nun wissen zu wollen. Der (trotz einiger Fehler heute sehr gut agierende) Daniel Heintze tritt in der 51. Minute einen Freistoß, der seinen Weg auf den Kopf von Pierre Merkel findet, und plötzlich steht es 1:0 für Chemie. Endlich die Erlösung von der Torflaute, endlich ein Erfolgserlebnis! Zu meiner Freude ist mir auch noch ein recht gutes Foto dieses Treffers gelungen.
Ein Freund von mir, ein Journalist und ausgemachter Lok-Fan, welcher politisch eher linksliberal und mit christlich-demokratischen Werten ausgestattet ist, nannte meinen Beitrag zum Leipziger Derby hier in dieser Kolumne Scherzes-halber als ein Ausgeburt der Lügen-Presse. Ich konterte damit, dass ich ihn fragte, wie sich das anfühlt, den auch einmal „Lügen-Presse“ zu jemand sagen zu können. „Wunderbar“, so er. Pierre Merkel möchte nicht, dass wir den abgestandenen und geschmacklosen „Danke, Merkel“-Slogan der politisch Rechten auf ihn anwenden, wenn er für uns trifft. Und genau wie neulich mein Freund, der Lok-Fan, das Fischen in trüben und fremden Gewässern genoss; genieße ich es nun, dass ich mich zu Jens Fö. wende, und mein „Danke, Merkel!“ von mir gebe. Er hat recht, es ist wirklich wunderbar. Schließlich habe ich Geburtstag. Ich darf das.
Chemie hat nun Oberwasser und drängt auf mehr, will nachlegen. Kurz nach dem Führungstreffer foult der Bautzner Torwart den Chemiker Alexander Bury auf der Linie zum Strafraum, und der Schiedsrichter gibt zu recht Elfmeter. Pierre Merkel schnappt sich den Ball, der Unparteiische pfeift, und Merkel kullert ihn in die Arme des Torwarts. Egal, weiter geht’s. Wir führen immer noch! Indes entgleitet dem Schiedsrichter die zunehmend kampfbetonter geführte Partie immer mehr aus den Händen, was darin gipfelt, dass er Chemie ein reguläres, zweites Tor zu Unrecht aberkennt. Es war kein Abseits, wie die Fernsehbilder im MDR beweisen.
In der 65. Minute landete ein Gewaltschuss des Bautzners Jonas Mack an der Querlatte. Da haben wir nun wirklich sehr viel Glück gehabt. Auch sonst gibt es bei Chemie die gewohnten, katastrophalen Fehlpässe im Mittelfeld, welche den Gegner immer mehr aufbauen. Es ist geschafft, Chemie fährt nach langer Zeit wieder einmal einen Sieg ein. Nach dem Abpfiff jammerte der Trainer der Bautzner noch über den Zustand des Rasens. Als ob der nicht für beide Teams derselbe gewesen wäre. Damit verlassen wir den 17. Tabellenplatz, welcher den direkten Abstieg bedeuten würde. Wir haben indes wegen der vielen Spielabsagen aus jüngster Zeit drei Spiele mehr als viele unsere direkten oder indirekten Tabellennachbarn, so dass sich der Wert des Sieges heute tabellarisch schnell relativiert. Mit dem kommenden Spiel in Fürstenwalde wartet in der nächsten Woche eine schwere Aufgabe auf uns. Aber erst einmal können wir durchschnaufen. „Sinnlos“ schrieb ein Lok-Fan in deren Forum, als er von unserem erneuten Sieg gegen die Budissa erfuhr, bei der ja für den Lokalrivalen Endstation im Pokalspiel war. Wir können seine Meinung indes nicht teilen. Ich schon gar nicht, denn äußert sinnvoll beschenkte mich meine Mannschaft Punkt-genau am Geburtstag. Besser geht’s nicht. Auf geht’s, Chemie, kämpfen und weiter siegen!“
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20. Ligaspiel + SV Babelsberg - Chemie Leipzig 4:0 + Vorletzter Platz mit Dreizehn Punkten
19. Ligaspiel + Chemie Leipzig - Energie Cottbus 0:2 + Vorletzter Platz mit Dreizehn Punkten
Wo steht Chemie nach der Winterpause? Ein Torwart (Marcus Dölz) hat uns verlassen, ein Torwart (Dominik Heine) ist dazugekommen. Der Abwehrspieler Alexander Rodriguez-Schwarz hat seinen Vertrag aufheben lassen (schmerzlich), und Felix Paul ist nun auch nominell nicht mehr im Kader (er fehlt schon seit dem Beginn der Rückrunde). Mit dem Amerikaner Branden Stelmak (vom FC Eilenburg) und dem deutsch-Ghanaer Pierre Merkel (SC Wiedenbrück) wurden zwei neue Stürmer verpflichtet. Das Testspiel gegen München 1860 war nun aufgrund des vollständigen Durchwechselns aller Mitgereisten Spieler wenig dazu in der Lage, die beiden Neuen einzuspielen. Allerdings muss man sagen, dass es für beide Vereine ein schönes Event war, und der Trainer sicher gut daran tat, alle unsere Spieler daran aktiv partizipieren zu lassen. Chemie hat sich achtbar geschlagen, und durch eine Unachtsamkeit in der 3. Minute den Siegtreffer der „Sechziger“ hinnehmen müssen. Die beiden anderen Testspiele sagen nichts aus.
Aufgrund der unterschiedlichen politischen Ausrichtung der führenden Ultra-Gruppierungen beider Vereine ist das Spiel heute von einiger Brisanz und wurde zum Hochsicherheitsspiel deklariert. Dies zeigt sich in der Anwesenheit der beiden Wasserwerfer, die wir schon vom letzten Derby in Probstheida kennen. Einer der beiden sichert die Schnittstelle des Gästezugangs am Alten Bahnhof Leutzsch, der andere bezieht Position hinter dem Gästeblock, welcher von den Cottbussern schmählich unterfrequentiert wird. Gerade einmal 200 Lausitzer sind mitgereist, das ist absolut enttäuschend. Sicher auch eine Form deren Protestes gegen den eingeschränkten Gästekarten-Vorverkauf (nur an registrierte Vereinsmitglieder), welcher den Cottbussern vom Verband als Strafe wegen der Ausschreitungen bei vergangenen Spielen (zum Beispiel in Babelsberg) nahegelegt wurde. Zirka 3700 Zuschauer sehen das Spiel heute. Aus baulichen Gründen ist unsere Tribüne gesperrt (sie wird gerade am Unterbau verstärkt und erneuert). Dadurch wirkt unser Dammsitz nun endlich wieder richtig voll, weil die Tribünen-Dauerkartenbesitzer dahin ausweichen.
Von meinen direkten Freunden ist heute nur Sven anwesend, der zwei Tage vorher den Abschied von seinem Vater in Form der Beerdigung durchleiden musste, und welcher selbst bis zum Donnerstag vor dem Spiel noch im Krankenhaus lag. So sind die Chemiker, heute steht er wieder auf dem Norddamm. Respekt! Ohne meinen fotografischen Co. Martin bin ich also heute mit dem Knipsen beschäftigt, und habe meine Schalmei an der Wand zu Hause hängen lassen. Die Schalmei hatte mir sowieso mitgeteilt, dass sie noch stinksauer ist bezüglich unseres erbärmlichen Auftritts im letzten Spiel der Hinrunde bei der TSG Neustrelitz, dass 0:3 verloren ging. Verloren ging gegen einen direkten Mitbewerber um den Klassenerhalt in einem sogenannten Sechspunkte-Spiel. Damit hat Neustrelitz uns überholt, und wir stehen über Weihnachten auf dem 17.-, also direkten, Abstiegsplatz. Als bekennender Pessimist habe ich mit diesem Ergebnis, und mehr noch, durch die Art, wie schwach wir uns präsentiert haben, mit der „Mission Klassenerhalt“ beinah schon abgeschlossen. So wird das nichts, kann es nichts werden. Natürlich werden wir weiter kämpfen und strampeln, versteht sich von selbst. Da sind ja auch noch die zwei neuen Stürmer. Mal sehen, mal sehen …
Fazit: Chemie hatte wieder einmal nicht eine richtige Torchance. Auch die beiden neuen Stürmer gaben mir nur wenig Grund zur Hoffnung. Merkel hatte, bedingt durch seine Größe, einige wichtige Abwehraktionen. Nein, das ist kein Sarkasmus, dass ist die Wahrheit. Der andere, Branden Stelmak, wurde in der 2. Halbzeit eingewechselt und fand keine Bindung an das Spiel, rannte vorn zwar auffällig hin und her, aber das wars dann auch). Yajima agierte nach seiner Einwechslung zunächst sehr gut, aber seine schnellen, genialen Pässe nach Balleroberung finden bei uns keine antizipierenden Adressaten. Da sollte sich der Trainer einmal fragen, ob er das nicht besser bei seinen Offensiven hinbekommen könnte, damit die Laufwege endlich stimmen, Automatismen kreiert werden. So geht es dann also auch mit Yajima dahin, er reibt sich auf. „Gegen Cottbus7kann man mal verlieren“ – skandieren die 200 Gästefans. Da haben sie recht. Aber nicht so, wie wir heute. In mir verdichtet sich das Gefühl des besiegelten Abstiegs. Einfach bedingt durch die Restriktionen unserer Möglichkeiten. Müssen drei Vereine runter, sind wir dabei. Die anderen, die kurz vor uns stehen, sind deutlich besser als wir. Von allen 92 Regionalligateams haben wir mit acht Toren die allerwenigsten Tore erzielt. Fazit: Ja, es ist die Art, wie wir heute verloren haben: Ohne eine einzige, zwingende Aktion vor des Gegner Tor. Das reicht, um den Weg nach unten geebnet zu sehen.
Egal, wir haben mal oben reingeschnuppert und gesehen, dass es so noch nicht reicht; noch nicht reichen kann. In der Euphorie des Aufstiegs wurden viele gute und wichtige Aktionen bei uns angeschoben: Flutlicht, Event-Spiele, Fanzüge, Sanierungen, und, most of all: Wir werden wieder wahrgenommen, hatten 3 Spiele live im MDR mit großer Strahlkraft. Wir sind Teil des "Famous Leipzig Derby", wie man nun sogar in Ägypten weiß. Es gilt, den Verein langsam und mit Verstand weiter zu entwickeln. Wenn wir nicht allzu viele Leistungsträger verlieren, steigen wir auch wieder auf. Ich bin nicht allzu traurig. Was für Probleme zum Beispiel die 3. Liga erst für die Ostvereine offenbart, erleben wir ja gerade bei den betreffenden Kandidaten.
Ich bin ja bekennender Pessimist, der sich tierisch freut, wenn es dann doch anders kommt. Mein Pessimismus gilt nur für mich! Alle anderen: Kopf hoch! Auf geht’s, Chemie, kämpfen und Klasse erhalten! Und falls wir doch noch drin bleiben: Desto besser. Ich werde zu allen Heimspielen gehen, aber da wir auswärts keine Fahrgemeinschaften außerhalb der Diablos auf die Reihe bekommen, schließe ich mal das Kapitel, vermutlich auch inklusive Pokalspiel gegen den VfB Auerbach, wo wir höchstwahrscheinlich untergehen werden. Aber dies, natürlich, sangvoll. Und die Diablos sollten sich aus meiner Sicht einmal hinterfragen, ob man die Gesänge nicht Situations-bezogener hinbekommt. Mehr Anfeuern, weniger sich selber einlullen in eine behagliche Wärme, bei der er es schon fast egal zu sein scheint, ob man verliert, oder gewinnt. Nur mal so.
Niemand wir wir! Einmal Chemie, immer Chemie!