Offener Brief an Sport und Politik

Berlin, den 1. Mai 2007
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Im August 2008 feiern die Olympier der Welt in Peking ihre Spiele. Die gegenwärtige Diskussion um die „Tour der Harmonie“, den 137 000 Kilometer langen Weg der olympischen Fackel und die soeben abgewiesenen Forderungen von Tibet und Taiwan, dem innerchinesischen Gebiet nicht zugeschlagen zu werden, machen die kommenden Spiele einmal mehr zu einem hochpolitischen Fest. Was für die einen „ein faires Angebot“ ist, wird für die Menschenrechtssituation in den beiden Regionen zur unerträglichen Provokation.

An Herrn Dr. med. Graf Jacques Rogge, Präsident des IOC

An Herrn Dr. jur. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern

An Herrn Dr. jur. Thomas Bach, Präsident des DOSB

 

Offener Brief an Sport und Politik

Berlin, den 1. Mai 2007

 

Im August 2008 feiern die Olympier der Welt in Peking ihre Spiele. Die gegenwärtige Diskussion um die „Tour der Harmonie“, den 137 000 Kilometer langen Weg der olympischen Fackel und die soeben abgewiesenen Forderungen von Tibet und Taiwan, dem innerchinesischen Gebiet nicht zugeschlagen zu werden, machen die kommenden Spiele einmal mehr zu einem hochpolitischen Fest. Was für die einen „ein faires Angebot“ ist, wird für die Menschenrechtssituation in den beiden Regionen zur unerträglichen Provokation. Denn China demonstriert Macht, nicht vielbeschworene Toleranzfähigkeit. Auch die rabiate Zunahme „politisch motivierter Verfolgung“ im Land selbst – allein im Jahr 2006 wurden 760 000 Chinesen zu Freiheitsstrafen verurteilt – sollte die Welt eher alarmieren als zu litaneiartigen Unbedenklichkeitserklärungen animieren.

 

„Der Sport hat nur dann eine Zukunft, wenn er seine ethischen Werte wieder entdeckt“, äußerte Jacques Rogge 1999 in einem Interview. Dem dürfte so ein. Doch zugleich wächst dem Sport in einer ungemein spannungsreichen, fragmentarisierten Welt eine vornehmlich neue Rolle zu: Er wird seine bisherige Bezüglichkeit überwinden und sich souverän im Sinne einer Neuen Politik öffnen müssen, - da bestimmte globale Konflikte heute gerade und vielleicht nur in seinem Raum überwunden werden können - oder er verfehlt seine Verantwortung und damit auch seine Zukunft. Die traditionelle Abwehrposition des Sports in bezug auf seine politische Rolle muss fallen, will er seinen Anspruch als ein wichtiges globales Humanprojekt aufrechterhalten.

 

100 000 Euro und ein Auto erhält ein chinesischer Athlet in Peking 2008 für eine Goldmedaille. Dabei dürfte klar sein, dass die eifernden Athleten in den 3000 Sport-Schulen des Landes für die „Operation Gold“ - 119 zu gewinnende Goldmedaillen in Peking - kaum unbehelligt bleiben werden. Bereits vor fünf Jahren verschwanden 50 von 100 hoffnungsvollen Schwimm-Rekruten auf dem Weg in eine der Pekinger Eliteschulen. Ihr Verbleib blieb ungeklärt, genauso ungeklärt wie 2006 die Funde in der Anshan-Schule für Sport, Provinz Liaoning. Fahnder stellten 450 Flaschen Dopingpräparate (EPO, Steroide, Amphetamine) sicher, die an 15- bis 18-jährige Athleten vergeben wurden, bzw. werden sollten. Und was ist mit den zahlreichen Weltrekorden, die zwölf- und dreizehnjährige Mädchen soeben in den Schwimmbecken chinesischer Provinzen erstrampeln? Und was mit der Tatsache, dass China in bezug auf den Vertrieb anaboler Steroide und Wachstumshormone eine gigantische Aufholjagd eingeleitet hat. Denn die riskanten Substanzen sind dort um ein Vielfaches billiger als auf den westlichen Märkten, und der Vertrieb übers Internet ist unkompliziert. Darüber hinaus hat das Land im Bereich der Genforschung seit Jahren eine Spitzenposition inne und besticht durch seine Forschungsliteratur. Diese unmissverständlichen Indizien können nur zu der Frage führen: In was für einer Olympiade befinden wir uns eigentlich?

 

Insbesondere Deutschland wäre aufgrund seiner historischen Substanz prädestiniert für Investigation und verpflichtet etwa zur Solidarität mit den verschwundenen chinesischen Athleten. Denn die Deformationen des zwangsdopinggesteuerten DDR-Sports haben eins zumindest eindrucksvoll zu Tage gefördert: Trifft eine einrutschende Diktatur auf den freien Markt, wird der Zugriff auf die schutzbefohlenen Körper in ihr ungeheuer rabiat. Wie Akten belegen, hatte die Mini-DDR mittels ihrer systematischen Pharma-Mast insgeheim mit dem ersten Platz der Länderwertung 1984 in Los Angeles geliebäugelt und damit die unermessliche Schadensbilanz an jungen Körpern und Seelen selbstverständlich in Kauf genommen. Selbst wenn die politische Großwetterlage dem kriminellen Vorhaben einen Strich durch die Rechung machte: Die Schäden sind da und so die historische Folie zu Peking 2008 augenfällig und mehr als beunruhigend. Was also ist konkret über die Situation bekannt, in denen sich chinesische Athleten gegenwärtig auf die Olympischen Spiele vorbereiten? Wer gewährleistet deren Schutz, vor allem die Rechte Minderjähriger? Kommt eine internationale Ethik-Kommission zum Einsatz, die sich über die humanitären Standards im chinesischen Sport ein Bild macht? Warum gibt es kein „Projekt Saubere Spiele“, das die öffentlich gewordenen Indizien zum verdreckten chinesischen Sport klärt? Was plant das IOC, was planen der deutsche Sport und die deutsche Politik, damit die Welt im Sommer 2008 Olympische Spiele feiert, die ihrem selbstgegebenen Geist tatsächlich entspricht?

 

Mit freundlichem Gruß

Ines Geipel, Schriftstellerin, ehemalige DDR-Leichtathletin

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